Harte Kerle

Sporadisch haben wir Internet, aber grosse Datenpakete zu senden geht nicht, nur kleines flutscht durch. Darum ein Update im Telegrammstil. Seit der ersten grossen Messaktion im Billefjord haben die Forscher bereits zweie weitere Male Messungen gemacht. Dann stoppt das Schiff, die Crew versucht, die Position zu halten. Der zweite Halt war bei 80° 20’ N, an einem Punkt, an dem der Golfstrom noch immer spürbar ist: Vier Grad warm ist das Wasser, von der Oberfläche bis zum Grund auf 150 Meter Tiefe.

Im Schneetreiben um 3 Uhr 30 morgens hat die Crew zum ersten Mal ein Schleppnetz zu Wasser gelassen. Am Ende des Netzes ist eine Box befestigt, die möglichst schonend den Polardorsch fangen soll. An dieser Art sind einige Forscherinnen auf dem Schiff besonders interessiert. Der Polardorsch ist ein wichtiger Fisch in der Nahrungskette der Arktis. Aber da, wo immer mehr wärmeres Wasser vom Süden her eindringt, wird er von Einwanderern verdrängt. Zum Beispiel dem viel grösseren atlantischen Dorsch.

Die Forscherinnen und Forscher sortieren und bestimmen den Fang aus dem Schleppnetz

Das Schleppnetz brachte eine ansehnliche Fracht nach oben. Viel atlantischen Dorsch, Schollen, Quallen, Seesterne und manches andere mehr. Aber keinen Polardorsch, dem scheinen die 4 Grad hier zu warm zu sein. Was für ein Fisch. Dieser harte Kerl pflanzt sich vom November bis Januar fort. Seine Eier steigen im Wasser auf und reifen unter dem Meereis. Die Forscher vermuten, der Polardorsch macht das so, weil es im Polarwinter weniger Fressfeinde hat – viele von denen ziehen im Winter nach Süden.

Die Forscherinnen auf dem Schiff wollen den Polardorsch fangen, um zu testen, wie schädlich eine Ölpest für ihn wäre. Experimente haben gezeigt, dass er sehr anfällig dafür sein könnte. Eine schlechte Nachricht, weil vor allem Norwegen dabei ist, immer weiter nördlich nach Öl zu suchen und zu bohren. Die Experimente machen die Forscher im Labor in Tromsø. Sie setzen die gefangenen Exemplare in grosse Tanks, die auf dem Deck des Schiffes stehen und bringen sie so heil ins Labor.

Zuerst aber müssen sie welche erwischen.

Zuerst trainieren wir für unsere Sicherheit, dann fangen wir lichtscheues Plankton

Noch am Abend der Abfahrt gibt es ein Sicherheitsbriefing. Was tun bei Feueralarm? Wie zieht man den Survivalanzug richtig an?

Nicht lachen, das ist gar nicht so einfach. Wie das wäre, bei Wind, Dunkelheit und vielleicht 1-grädigem Wasser, das stelle ich mir besser nicht vor.

Nils, der 2. Offizier, erkläre das richtige Verhalten: Füsse voran in die dunkle Leere springen. Mit den Händen hält man die Kapuze fest, damit beim Eintauchen kein Wasser ins Innere des Anzugs dringt. Alle versuchen, zusammenzubleiben, resp. zueinander zu finden. Hat man den Kontakt hergestellt mit einem Schicksalsgenossen, verbindet man sich mit einer Leine. So soll sich eine lange Kette aus Schiffbrüchigen bilden, die von einem Suchtrupp im Helikopter oder Schiff besser zu sehen ist.

Um etwa 23 Uhr kommt das Schiff an der ersten Station im Billefjord an. Die Forscherinnen und Forscher lassen ihre ausgeklügelten sehr feinmaschigen Netze zu Wasser, die sich in verschiedenen Tiefen öffnen und schliessen. So können sie das Plankton in den verschiedenen Wasserschichten fangen. Rolf Gradinger erklärt es so: «Das Meer ist wie ein Hochhaus, in dessen Etagen unterschiedliche Mieter wohnen. Und wir wollen wissen, wer in der Polarnacht welche Etage mietet.» Im Sommer ist die Wohngemeinschaft besser bekannt.

Weil viele Planktonwesen selbst schwaches Licht scheuen, werden beim Auswurf der Netze die Lichter gelöscht, nur Stirnlampen mit Rotlicht erleuchten die kalte Nacht auf dem Hinterdeck. Als die Netze wieder hochkommen, sind darin blau-leuchtende Punkte zu sehen. Das sind kleine Krebschen, die sich im Dunkeln selbst etwas Licht produzieren. Biolumineszenz nennt die Wissenschaft das.

Nach den Netzen lassen die Forscher ein Gestell mit Flaschen in die 150-Meter-Wassertiefe absinken. In verschiedenen Tiefen nehmen die Flaschen Wasserproben auf, Sensoren messen die Temperatur, den Salzgehalt und die Dichte. Auf einem Monitor können die Forscher live verfolgen, wie das Wasser zuerst immer wärmer wird, bei -30 Meter etwa drei Grad, danach wird es immer kälter: In 150 Meter Tiefe ist es etwa -1.5°C.  Wegen des gelösten Salzes gefriert es nicht.

Manche der Forscher schuften die Nacht durch, kommen um 6 Uhr ins Bett. Um 7 Uhr 30 gibt es Frühstück, um 8 Uhr 30 ist eine Besprechung angesetzt.

«Forschungsfahrten im Winter sind schwierig und ungewöhnlich»

In wenigen Stunden geht die Fahrt los. Die Forscher haben sich im University Center von Spitzbergen (UNIS) versammelt, um die ersten 24 Stunden der Fahrt genauer zu besprechen. Alle wollen ihre Proben nehmen, die Zeit auf der Fahrt ist knapp, darum muss geplant werden.

Der wissenschaftliche Leiter der Fahrt, Rolf Gradinger, hat mir kurz die Ziele der Fahrt erklärt:

Warum ist es wichtig, mehr über das Leben während der Polarnacht herauszufinden?

Die Fahrt wird bis über 80° N gehen – werden wir auf Meereis stossen?

Ist es normal, dass es um diese Jahreszeit hier kaum Meereis gibt?

Erwarten Sie, dass Sie und Ihre Kollegen auf dieser Fahrt Veränderungen bei den kleinen Lebewesen im Meer feststellen können?

Die Mikroorganismen, die Rolf Gradinger erwähnt hat:

• Phytoplankton: Kleinstlebewesen, die im Meer treiben, und aus Sonnenlicht Energie gewinnen können. Algen gehören dazu, aber auch manche Bakterien oder Einzeller. Sie alle bilden die Basis der Nahrungskette im Meer. Ohne sie keine Dorsche, keine Haie, keine Wale.

• Zooplankton: Kleinlebewesen, die zum Teil rudern können, die aber hauptsächlich mit der Strömung treiben. Dazu gehören kleine Krebschen (zum Beispiel Krill), manche Wurmarten, Einzeller. Zooplankton kann das Sonnenlicht nicht zur Energiegewinnung nutzen, es lebt also davon, andere zu fressen.

(Wikipedia: πλαγκτόν «das Umherirrende»)

Lebendes Eis

Im Fokus der Forscher auf der «Helmer Hanssen» ist das Leben im Innern des Meereises. Genau, dort leben eine Unmenge Organismen: Algen, Einzeller, Bakterien, Krebschen. Lebensraum bieten ihnen feine Kanäle, die das Eis durchziehen. Die Forscher des Projekts «Arctic SIZE» haben eine schöne

© Arctic SIZE

Online-Publikation über diese Zusammenhänge veröffentlicht. Darin sprechen sie vom gefrorenen Schweizer Käse. Dieser löchrige Käse kommt durch die Art zustande, in der das Eis gefriert: Das Meerwasser stösst das Salz aus, wenn es fest wird. Dadurch entsteht zwischen den sich bildenden Eiskristallen eine Lösung, die sehr viel Salz enthält. Diese bleibt wegen ihres hohen Salzgehalts flüssig, es entstehen feine Kanäle, die das Meereis durchziehen und den Organismen eine Heimat bieten. Im Frühling, wenn das Sonnenlicht in die Arktis zurückkehrt, vermehren sich die Algen im Innern des Eises. Manche dringen nach aussen ins Meer, wo am Eisesrand die ersten frühen Algenblüten entstehen – eine wichtige Grundlage für die Nahrungsketten im arktischen Ozean.
Wie der Kleintierzoo im Meereis funktioniert, hat mir Rolf Gradinger 2013 erklärt, als ich in Barrow, Alaska, einen Meereiskurs besuchen konnte, den er und andere Forscher dort organisiert haben: