Vom verschwindenden Eis

Bis vor 30, 40 Jahren war der arktische Ozean ein eisiger Ozean: Im Winter grossteils bedeckt mit dickem Eis, das auch der 24-Stunden-Sonne im Sommer Paroli bot. In alten Berichten von arktischen Entdeckungsfahrten, die ich gerade lese, ist von Eisdicken die Rede, die mehrere Meter übersteigen.  Man konnte damals fast von einem arktischen Eiskontinent sprechen, statt von einem arktischen Ozean.

Heute überlebt viel Eis den Sommer nicht. Dadurch wird die Fläche immer kleiner, die in der wärmeren Jahreszeit eisbedeckt ist – und das Eis wird immer dünner: Unter dem Strich ist die Eisausdehnung heute 40 Prozent kleiner als noch vor 30 Jahren.

Durchschnittliche Eisbedeckung der letzten 10 Jahre   © Wayne Chan, University of Manitoba/Arctic SIZE.

Für die Bewohner des arktischen Ozeans haben diese Veränderungen enorme Auswirkungen: viel weniger Eis – und das über eine immer längere Periode im Jahr, weil der Frühling früher beginnt und der Sommer später endet. Das bedeutet mehr Licht, wärmeres Wasser, neue Einwanderer vom Süden. Die arktischen Arten finden sich plötzlich in einem ganz anderen Lebensraum wieder.

Im Lichte des normalen Lebensrhythmus auf der Erde gehen diese Veränderungen rasant vor sich. Die Forscher kommen nicht nach bei deren Dokumentation. Expeditionen in der Arktis sind noch immer aufwendig, schwierig und teuer – besonders im polaren Winter. Darum sind viele Ecken der Arktis nur schlecht erforscht, weiss man von vielen Tier- und Mikroorganismen-Arten nicht genau, wo sie vorkommen und wo nicht. Gerade bei den Mikroorganismen sind sogar noch viele Arten unbekannt. Sie bilden aber das Fundament der Nahrungspyramide. Kurz: Es kann sein, dass sich im Ökosystem der Arktis bereits sehr viel verändert hat – aber vieles davon nie bemerkt wird, weil man gar nicht weiss, wie es einmal war.

Lebendes Eis

Im Fokus der Forscher auf der «Helmer Hanssen» ist das Leben im Innern des Meereises. Genau, dort leben eine Unmenge Organismen: Algen, Einzeller, Bakterien, Krebschen. Lebensraum bieten ihnen feine Kanäle, die das Eis durchziehen. Die Forscher des Projekts «Arctic SIZE» haben eine schöne

© Arctic SIZE

Online-Publikation über diese Zusammenhänge veröffentlicht. Darin sprechen sie vom gefrorenen Schweizer Käse. Dieser löchrige Käse kommt durch die Art zustande, in der das Eis gefriert: Das Meerwasser stösst das Salz aus, wenn es fest wird. Dadurch entsteht zwischen den sich bildenden Eiskristallen eine Lösung, die sehr viel Salz enthält. Diese bleibt wegen ihres hohen Salzgehalts flüssig, es entstehen feine Kanäle, die das Meereis durchziehen und den Organismen eine Heimat bieten. Im Frühling, wenn das Sonnenlicht in die Arktis zurückkehrt, vermehren sich die Algen im Innern des Eises. Manche dringen nach aussen ins Meer, wo am Eisesrand die ersten frühen Algenblüten entstehen – eine wichtige Grundlage für die Nahrungsketten im arktischen Ozean.
Wie der Kleintierzoo im Meereis funktioniert, hat mir Rolf Gradinger 2013 erklärt, als ich in Barrow, Alaska, einen Meereiskurs besuchen konnte, den er und andere Forscher dort organisiert haben:

Polarnacht-Blues in Longyearbyen

Im letzten Blogeintrag habe ich die vier verschiedenen Arten der Polarnacht aufgelistet. Vor kurzem hat in Longyearbyen die zivile polare Dämmerung begonnen. D.h. nur noch am Mittag ist ein Lichtschimmer zu sehen.

Die Bewohner von Longyearbyen wissen, wie man mit der Dunkelheit und anderen Eigenheiten des arktischen Lebens umgeht. Zum Beispiel, in dem man genügend Feste feiert – wie das «Dark Season Blues»-Festival, das am 27. Oktober begonnen hat. Mehr darüber zu lesen gibts auf icepeople.net, der nördlichsten alternativen Zeitung der Welt.

Verlegt, betrieben und geschrieben wird icepeople.net vom Journalisten Mark Sabbatini. Mark kam vor neun Jahren aus den USA nach Spitzbergen. Eigentlich wollte er nur über ein Jazzfestival berichten – aber er ist geblieben bis heute. Sein Büro befindet sich im Café Fruene, am Tischchen rechts hinten.

Mark Sabbatini im Café Fruene.

Ich habe Mark bei meinem letzten Besuch in Longyearbyen im Café Fruene besucht und ihn auf Radio SRF2 Kultur vorgestellt:

Wenn Sie mehr über den Alltag in Longyearbyen und Spitzbergen erfahren wollen, schmökern Sie in icepople.net.

Polarnacht

Richtiger wäre Polarnächte: es gibt verschiedene Arten, je nachdem wie tief die Sonne unter dem Horizont verschwindet. Denn auch wenn die Sonne unter dem Horizont liegt, ist ihr Licht manchmal zu sehen, weil ihr Licht von der Atmosphäre gestreut wird.

Polare Dämmerung – kommt an Orten vor, die innerhalb des Polarkreises liegen (66° 33′). Die Sonne liegt ständig unter dem Horizont, aber nicht tiefer als 6°. Man kann sich im Freien ohne künstliches Licht zurechtfinden.

Zivile polare Dämmerung – die Sonne ist zwischen 6° und 12° unter dem Horizont. Nur am Mittag ist ein Lichtschimmer zu sehen. An Orten nördlicher oder südlicher als 72° 33′.

Nautische polare Dämmerung – die Sonne bewegt sich zwischen 12° und 18° unter dem Horizont. Der Horizont ist zu erkennen, Sterne auch: Seeleute können navigieren, darum nautische Dämmerung. An Orten nördlicher oder südlicher als 78° 33′.

Astronomische Polarnacht – die Sonne bleibt tiefer als 18° unter dem Horizont. Jetzt ist es wirklich dunkel. In diesen Breiten (über 84° 33′) gibt es keine dauerhaften menschlichen Siedlungen und fast nur Eis – auf dem Land oder dem Meer.

Unser Schiff, die «Helmer Hanssen», wird am 17. November in Longyearbyen ablegen, d.h. auf 78° 13′ N – es wird dann dort zivile polare Dämmerung herrschen. Ich bin gespannt: Frühling und Sommer habe ich in der Arktis mehrfach erlebt, aber noch nie den polaren Winter.

Von Negativ-Rekorden

Das Meereis in der Arktis hat in den letzten 30 Jahren deutlich abgenommen. Im Sommer und im Winter. Forscher befürchten, dass die Arktis bis in 20, 30 Jahren im Sommer eisfrei sein könnte. Allerdings sind Prognosen für einzelne Jahre schwierig. Letztes Jahr, zum Beispiel, war das Minimum Ende Sommer sehr tief (gelbe Kurve) und es schien so weiter zu gehen: Im Frühwinter entstand nur wenig neues Eis. Im November gab es sogar Tage, in denen das Eis wieder schmolz – sehr ungewöhnlich. Der Winter 2016/2017 war in manchen Teilen der Arktis sehr warm, zum Beispiel in Spitzbergen. Am Nordpol herrschte um die Weihnachtszeit herum fast Tauwetter.

Ausdehnung des arktischen Meereises in sieben ausgewählten Jahren (Sea Ice Remote Sensing, Universität Bremen)

Trotzdem gab es im Sommer darauf, also dieses Jahr, keinen neuen Negativrekord (rote Kurve) – der gehört immer noch dem Jahr 2012 (grüne Kurve). Der Sommer 2017 war relativ kühl, das stabilisierte das Eis. Gegenwärtig ist die Ausdehnung etwa so wie im Rekordjahr 2012. Ich bin gespannt, wie es sich weiter entwickelt.

Tägliche Angaben zur Meereisausdehnung gibt es auch auf der Webseite des US-amerikanischen National Snow & Ice Data Center.

In Nacht und Eis

Die Arktis verändert sich rasant. Mancherorts ist die jährliche Durchschnittstemperatur um 5°C bis 6°C gestiegen. Das Meereis hat stark abgenommen. Diese Veränderungen oder Störungen haben drastische Auswirkungen, Arktisforscher sprechen von «einer neuen Arktis». Zum Beispiel Rolf Gradinger von der Universität Tromsø:

Vom 17.  bis 28. November wird das norwegische Forschungsschiff «Helmer Hanssen» die Insel Spitzbergen umrunden, an Bord Rolf Gradinger und weitere Wissenschaftler. Sie wollen herausfinden, wie die neue Arktis funktioniert. Unter anderem werden sie untersuchen, wie sich in der Polarnacht auf dem Meer das neue Eis bildet.

Bis die «Helmer Hanssen» am 17. November von Longyearbyen ablegen wird, ein paar kurze Blogeinträge. Der erste handelt vom Meereis im Kongsfjord an der Westküste Spitzbergens.

Meereis bildet sich im Winter und es schmilzt im Sommer. Dies gilt eigentlich auch für die «neue Arktis». Allerdings werden die Extreme extremer, und es gibt zunehmend unerwartete Entwicklungen: Regen im Winter zum Beispiel, Minusrekorde beim Meereis im Sommer, und im November 2016 schmolz das Eis auf dem Ozean zeitweise, statt sich neu zu bilden.

Sebastian Gerland bohrt ein Loch ins Meereis, um seine Dicke zu messen.

Auf dem Bild oben ist der Meereisforscher Sebastian Gerland des Norwegischen Polarinstituts auf einem Stück Meereis zu sehen, das er im Mai 2017 in einer Bucht des Kongsfjords im Westen Spitzbergens aufgespürt hat.

Ich habe Gerland damals begleiten können. Die Reportage dazu gibt’s bei Kontext und beim Wissenschaftsmagazin von Schweizer Radio SRF.
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